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Erdbeben

Stadt als seismisches Metamaterial?

Wie Städte die Ausbreitung von Erdbebenwellen beeinflussen

Hochhäuser
Die dichte Bebauung einer Stadt, vor allem mit Hochhäusern, könnte wie ein Metamaterial für Erdbebenwellen wirken. © Jarmo Piironen/ iStock

Gebäude als Wellenschlucker: Städte sind besonders durch Erdbeben gefährdet, doch gerade ihre dichte Bebauung könnte sie auch schützen, wie nun Messungen nahelegen. Demnach wirken die Gebäude ähnlich wie ein Metamaterial – ihre Resonanzeffekte dämpfen die Oberflächenwellen der Beben. Erste Hinweise darauf lieferte ein Experiment, in dem ein Windpark als Stadtmodell diente. Erschütterungen des Bodens lösten in den Windrädern Reaktionen aus, die Gegenschwingungen erzeugten.

Ob das Erdbeben in der Türkei im Februar 2023 oder das berühmte Erdbeben von Mexico City im Jahr 1985: Immer wieder zerstören seismische Erschütterungen ganze Städte. Verantwortlich für die schlimmsten Schäden sind dabei meist die Oberflächenwellen der Beben. Ihre rollenden und seitlichen Bewegungen zerstören Mauern und Fundamente. In erdbebengefährdeten Gebieten werden Gebäude daher schon seit längerem so gebaut, dass sie diese Schwingungen aushalten oder dämpfen können.

windpark
Dieser Windpark bei Nauen diente den Forschern als Testfeld für ihre Messungen. © M. Pilz/GFZ

Metamaterialien als Wellendämpfer

Doch es gibt noch eine Möglichkeit: Statt nur einzelnen Gebäude erdbebensicher zu machen, könnte auch die Bebauung der Stadt insgesamt so angelegt werden, dass sie die Schwingungen maximal abdämpft. Denn schon länger spekulieren Geoforscher über den sogenannten „City-Effekt“. Die Idee dahinter: Die Geometrie der Bebauung könnte die Stadt zu einer Art Metamaterial machen – einem Ensemble, bei dem Resonanzeffekte die Stärkespitzen der Erdbebenwellen „schlucken“.

„Metamaterialien basieren auf der periodischen Anordnung ihrer Elemente und auf deren Resonanzeigenschaften“, erklären Marco Pilz vom Deutsche GeoForschungszentrum Potsdam und seine Kollegen. „Diese Materialien erwerben dadurch Eigenschaften, die es in normalen Materialien nicht gibt.“ So können Metamaterialien beispielsweise elektromagnetische Wellen verstärken, transformieren oder auch komplett schlucken.

Voraussetzung dafür: Die Strukturen müssen dafür etwa ein Zehntel bis halb so groß sein wie die zu beeinflussende Wellenlänge. Für Erdbebenwellen mit typischen Frequenzen von 0,5 bis 25 Hertz könnte daher die dichte, von hohen Gebäuden dominierte Stadtbebauung genau im richtigen Größenverhältnis liegen.

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Testmodell Windpark

Ob sich Bebenwellen wirklich von stadtähnlichen Strukturen beeinflussen lassen, haben Pilz und sein Team nun an einem Analog untersucht – einem Windpark. Denn ähnlich wie in Innenstädten stehen auch dort hohe, schwere Objekte in relativ regelmäßigen Abständen. Für ihre Messungen installierten die Forscher ein Netzwerk aus rund 400 Geophonen und weiteren Sensoren, mit denen sie die Bodenschwingungen innerhalb und außerhalb des Windparkareals messen und vergleichen konnten.

Tatsächlich registrierten die Messinstrumente einen deutlich nachweisbaren Effekt: „Im Frequenzbereich zwischen 1,3 und 1,6 Hertz zeigt sich im Innen-Außen-Vergleich ein deutlicher Trog“, berichten die Forscher. Zwischen den Windrädern wurden vor allem die seitwärts schwingenden Rayleighwellen signifikant gedämpft. Ihre Amplitude war auf weniger als ein Fünftel reduziert. Weitere, schwächere Senken gab es bei 0,25 und 13 Hertz.

Resonanzschwingungen
Charakteristische Schwingungen der Windanlagen in Reaktion auf externe Erschütterungen. © Pilz et al./ Frontiers in Earth Science, CC-by 4.0

Resonanzeffekte und Phasenverschiebungen

„Unsere Messungen demonstrieren, dass die dichte Anordnung von Windkraftanlagen die Stärke seismischer Wellen im Frequenzbereich von wenigen Hertz, der für eine erdbebensichere Bauweise von Interesse ist, deutlich verringert“, berichtet Pilz. Welche Mechanismen dabei greifen, zeigten ergänzende geophysikalische Modellsimulationen.

Demnach schwingen die Windenergieanlagen ständig bei bestimmten Resonanzfrequenzen, ähnlich wie ein Haus es auch tut. Wenn eine Oberflächenwelle mit passender Frequenz auf diese Anlage trifft, werden die Schwingungen gestreut und es entsteht eine sekundäre Wellenquelle. Diese erzeugt Schwingungen, die phasenverschoben zu den seismischen Oberflächenwellen schwingen. Wie bei anderen Interferenzeffekten werden die Erdbebenwellen dadurch teilweise ausgeglichen und abgeschwächt.

Die Stadt als Metamaterial

„Damit haben wir zum ersten Mal demonstriert, dass große Strukturen im Maßstab eines Stadtviertels miteinander und mit dem seismischen Wellenfeld interagieren können“, schreiben Pilz und seine Kollegen. Damit werde ein Paradigmenwechsel im Verständnis der städtischen Umwelt eingeleitet: Städte sind nicht länger bloße Ansammlungen von Gebäuden und Infrastrukturen, sondern erweisen sich als dynamische Gebilde mit neu entstehenden Eigenschaften – ähnlich wie ein komplexes Metamaterial.

„Unsere Ergebnisse ebnen den Weg für mögliche zukünftige Anwendungen im Hinblick auf die Minderung seismischer Gefahren in städtischen Gebieten“, sagt Koautor Fabrice Cotton vom GFZ und der Universität Potsdam. Wie genau die städtische Bebauung jedoch dafür beschaffen und angeordnet sein sollte, muss nun noch weiter untersucht werden. (Frontiers in Earth Science, 2024; doi: 10.3389/feart.2024.1352027)

Quelle: Helmholtz-Zentrum Potsdam – Deutsches GeoForschungsZentrum GFZ

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